Katrin Alvarez

Übergangsbereiche

2012

Es herrscht in der Kunst des Augenblicks, des Momentanen, eine große Geschwätzigkeit. Die Documenta und Biennalen sind angefüllt mit Sprechblasen um die fehlende Lust in der Kunst zu verdecken. Nicht nur die Lust, auch die Angst, die Sehnsüchte, die Erinnerungen, die Verletzungen und Beschädigungen durch das Zusammenleben zwischen den Menschen, das durch die Kunst sublimiert werden kann. All das hat in der augenblicklichen Kunst keinen Stellenwert. Das ,Leben‘ wird ersetzt durch politische Tiraden, so wie auch in der Politik Aktion und Reaktion auf das Leben durch Tiraden ersetzt werden. Diese Gefühle des Lebens sind tiefer vergraben unter Schichten theoretischer Assemblagen, als ,die kleinen schmutzigen Götter‘ des Sigmund Freud im Schutt der Zivilisationen. Die Malerin und Zeichnerin Katrin Alvarez ist Ausgräberin. Sie legt die Puzzleteile des Lebens offen. Mit scheinbar Unzusammenhängendem zeigt sie Zusammenhänge auf, durch die Gestaltung der Ubergangsbereiche von Impulsivität und Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, in Stimmungen und im Selbstbild, wie es in der Fachliteratur der klinischen Psychologie heißt. Beziehungsvoll heißt Ihr Bild in der Sammlung des PHANTASTENMUSEUMS WIEN ,Borderline‘.

Da die Künstlerin lange als Journalistin gearbeitet hat, könnte man Ihre Bilder als Reflexionen einer Hausrecherche abtun. Das aber sind sie nicht. Es sind allgemeingültige Berichte aus dem Ubergangsbereich zwischen Außen- und Innenwelt. Anders als andere phantastische Maler, die in mythologischen Legenden ihre Themen suchen, oder sich als Visionäre und Heiler eine eigene gemalte Naturreligion schaffen, malt Alvarez Bilder der Psychotraumatologie.

Traumatische Erlebnisse sind eine Grunderfahrung des Menschen. Im kollektiven Unbewussten wurden die seelischen Folgen globaler und persönlicher Katastrophen jeder Art thematisiert. Die aus diesen Ereignissen resultierenden schmerzlichen Verluste und seelischen Erschütterungen führten zu zahlreichen Versuchen, die negativen seelischen Folgen dieser Ereignisse mit intuitiven Methoden zu lindern. Ein Vortrag von Docent Sigm. Freud über die Ätiologie der Hysterie‘ (1896) wird als Ursprung der modernen Psychotraumatologie angesehen. Darin behandelt Freud den Zusammenhang zwischen Hysterie und sexuellem Kindesmissbrauch. Sigmund Freud hat nie verstanden, warum die Surrealisten ihn als ihren Propheten sehen, hätte er Katrin Alvarez Bilder gekannt, er hätte es besser verstanden. An diesem Unverständnis- des von den Surrealisten verehrten Psychiaters haben sie aber selbst großen Anteil, durch Ihre Betonung des Unbewussten und des Traumes. Alvarez macht das nicht. Sie sublimiert die Verletzungen des Seelenlebens direkt. Nicht als Therapie, sondern, wie sie selbst schreibt, „als Journalistin, die – anstatt mit Worten – das Leben mit Farben und Linien beschreibt. Die überwältigende Schönheit der Existenz, ebenso wie seine grausamen Dunkelseiten – ich versuche möglichst viele Aspekte wahrzunehmen und in meiner Bildersprache wiederzugeben. Das Verschmelzen von neuen virtuellen Dimensionen und der guten alten Wirklichkeit übt eine große Faszination auf mich aus.“ Eine Faszination, die sich auf den Betrachter überträgt, der es wieder erlernen muss, Bilder zu lesen.

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